USA: Jahresrückblick zur Entwicklung der Todesstrafe 2015

Noch immer werden geistig Behinderte und Kranke hingerichtet – die Bedeutung medizinischer Erkenntnisse für die gesamte Gesellschaft

Vom 2. Januar 2016

2015 wurden in allen US Bundesstaaten „nur“ 28 Menschen hingerichtet. Es waren damit die wenigsten Hinrichtungen seit 25 Jahren. Das Justizsystem wirft jedoch weiterhin viele kritische Fragen auf, wie die Hinrichtung geistig Behinderter oder anderer eindeutig kranker Menschen.

Die Erkenntnisse der Medizin liefern Antworten und dies nicht nur „im Sinne“ der Angeklagten und den aktuellen Kontroversen in den USA, ob behinderte Menschen exekutiert werden dürfen. Neurobiologie, Wissenschaft und medizinische Untersuchungen geben auch wertvolle Hinweise zur Prävention und Vermeidung weiterer Straftaten.

Das traurige Beispiel Cecil Claytons

Ein trauriges Beispiel und Zeitzeugnis hierzu ist Cecil Clayton: Clayton ist im Alter von 74 Jahren hingerichtet worden. Seine Exekution stieß auf heftige Kritik, da der Angeklagte in hohem Maße intellektuell und geistig behindert war: Nach Aussagen und Dokumentation seiner Anwälte hatte der Angeklagte noch nicht einmal begriffen, dass er hingerichtet werden sollte. Er hatte einen IQ von 71 und die Lese- und Schreibfähigkeit eines Viertklässlers.

Der wegen Mordes verurteilte Clayton hatte sich über 20 Jahre vor seiner Straftat bei einem Sägewerk-Unfall derart schwere Verletzungen zugezogen, dass er unter anderem 20 Prozent seiner Frontalhirnrinde verloren hatte. Nach Aussagen seines Bruders hatte sich Cecil Clayton seit dem Unfall im Jahr 1972 radikal verändert: Er ließ sich scheiden, wurde gewalttätig und alkoholabhängig. Er begab sich aus eigenem Antrieb in Behandlung und suchte auch den Rat von Ärzten, da er selbst über seine eigene Veränderung und insbesondere Kontrollverluste erschrocken war.

Dass Hirnschädigungen zu einer derartigen Einschränkung und dauerhaften Behinderung führen können, wie Claytons Anwälte behaupteten, scheint mehr als plausibel, wirft man einen Blick in die Erkenntnisse der Neurobiologie: So weiß man inzwischen, dass es bei Menschen mit „Läsionen im Orbifrontalen Cortex“, d.h. mit Verletzungen des Frontal-/ Stirnhirns oder angrenzenden Hirnregionen, zum Verlust der Impulskontrolle kommt. Personen, die unter derartigen Schäden leiden, sind daher nur eingeschränkt urteilsfähig und dementsprechend zu Recht als „geistig“ bzw. intellektuell behindert anzusehen. Je nach Ausmaß der Verletzungen in diesen Hirnregionen können solche Menschen ihre Handlungen nicht mehr kontrollieren. Diese medizinischen Erkenntnisse spielen daher auch in der Psychopathologie eine bedeutende Rolle, wie z. B. im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen. Auch „antisoziale“ Persönlichkeiten stehen daher in konkretem Zusammenhang mit derartigen Unfällen.

Wissenschaftlich nachgewiesene Folgen ernsthafter Hirnschädigungen

Die volle Funktionsfähigkeit des menschlichen Gehirns beeinflusst in erheblichem Maße interne Denkprozesse, wie z.B. selbstreflexive Gedanken oder autobiographische Erinnerungen. Wissenschaftlich-medizinische Untersuchungen und Studien haben z.B. erwiesen, dass bei Personen mit größeren Verletzungen des Frontal-/Stirnhirns die Reuefähigkeit fehlt und demzufolge Gewissenlosigkeit zunimmt.

Die Neurobiologie und Medizin liefern daher entscheidende und objektive Hinweise zu grundsätzlichen Kernfragen, wie z. B. der Prävention von Wiederholungstaten. Ebenso hinsichtlich der Frage, ob Personen mit derartigen Hirnschädigungen überhaupt in gleichem Maße bestraft werden dürfen und sollten. 

Cecil Clayton ist kein Einzelfall in den USA. Wie viele Insassen in den USA insgesamt eindeutig als „behindert“ einzustufen sind, ist statistisch kaum möglich zu erfassen, da es nur in wenigen Fällen ausreichende und eindeutige medizinisch-diagnostische Untersuchungen und Dokumentationen gibt.   

Einzelne konkrete Fälle mit klarer Krankheitsvorgeschichte und Diagnose, inklusive MRT-Untersuchungen, welche derartige Erkrankungen auch physiologisch eindeutig zeigen wie bei Cecil Clayton, lassen daher berechtigte Zweifel am amerikanischen Strafsystem aufkommen.

Das CHHI (Charles Hamilton Houston Institute for Race and Justice) liefert durch seine Studie zu den 28 hingerichteten Personen zusätzliche Anhaltspunkte. Nach Untersuchungen des Institutes litten 7 aller 28 während des letzten Jahres Hingerichteten an schweren intellektuellen Beeinträchtigungen, einschließlich Hirnschäden.

Claudia Cornelia Goecke
Initiative gegen die Todesstrafe e.V.

Quellen und weitere Informationen:

Charles Hamilton Houston Institute for Race and Justice (CCHI), Harvard Law School: „Death Penalty 2015 Year End Report„; The Guardian, CBC News;

Literatur zur Neurologie/ Auswirkungen von Hirnschädigung im Bereich des Frontal- und Stirnhirns: Strüber, N./ Roth, G (2014).: „Wie das Gehirn die Seele macht“, S. 85, S. 86 (Anm.: Bei den Verfassern handelt es sich um weltweit anerkannte Forscher)