15.08.2013 | Georgia: Die Tortur des Warren Hill
Hat ein zum Tode Verurteilter einen Hinrichtungstermin, muss er spätestens an dem Tag mit seinem Leben abschließen. Er erhält seine letzte Mahlzeit, er verabschiedet sich von seiner Familie und seinen Freunden, bespricht sich vielleicht noch mit seinem geistlichen Beistand und stellt sich im Countdown bis zur Exekution innerlich darauf ein zu sterben.
So erging es auch Warren Hill - jedoch nicht einmal, sondern innerhalb von einem Jahr bereits viermal.
Der erste Termin für den Häftling, der dem Vernehmen nach einen IQ von gerade einmal 70 besitzt, war der 23. Juli 2012. Er nahm sein letztes Mahl ein und verabschiedete sich. Neunzig Minuten vor der für die Giftinjektion festgesetzten Zeit wurde die Maschinerie gestoppt.
Sieben Monate später rückte sein Todeszeitpunkt sogar noch näher. Hill lag bereits auf der Hinrichtungsliege, war sediert und festgeschnallt. Nur dreißig Minuten vor dem geplanten Vollzug wurde ein Aufschub erteilt.
Am 15. Juli diesen Jahres blockierte ein einstweiliger Aufschub erneut die Tötungsprozedur, diesmal vier Stunden vor Vollstreckung.
Lange währte der Aufschub nicht, der nächste Hinrichtungstermin wurde prompt für den 19. Juli angesetzt. Am 18. Juli gewährte ein Richter vom Superior Court in Fulton County die vorläufige Aussetzung der Strafe.
Es kommt durchaus vor, dass Häftlinge mehr als einmal vom Leben Abschied nehmen. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn ein zum Tode Verurteilter einen Termin erhält, der dann doch gestoppt wird. Anwälte von Hinrichtungskandidaten kämpfen oft bis zur letzten Minute, um genau das zu erreichen.
Vielleicht halten einige Warren Hill sogar für einen Glückspilz, dem Tod so oft von der Schippe gesprungen zu sein. Doch Menschenrechtsexperten bewerten das ganz anders. Nach ihrer Einschätzung sind wiederholte Ausflüge in die Hinrichtungskammer, gefolgt von Aufschüben in letzter Minute als psychologische Folter anzusehen.
Brian Evans, Leiter der Antitodesstrafenkampagne bei Amnesty International in den USA, setzt die Auswirkungen einer kurz vor Vollstreckung ausgesetzten Hinrichtung mit denen einer Scheinhinrichtung gleich, bei der man jemanden glauben macht, dass er unmittelbar hingerichtet wird.
"Völkerrechtlich gesehen gelten Scheinhinrichtungen als eine Form der Folter", sagte Evans. "Einem Aufschub in letzter Minute mag zwar der Vorsatz mangeln, doch für denjenigen, der auf der Liege festgeschnallt ist, macht das keinen Unterschied."
Richard Dieter vom Death Penalty Information Center (DPIC) ist der gleichen Ansicht. "Warren Hill ist in der unangenehmen Lage, in der er ständig nicht weiß, ob er binnen eines Tages tot sein oder weiterleben wird. Es muss dringend geprüft werden, ob dies nicht eine grausame Form der Strafe ist."
Das Warten auf die eigene Hinrichtung ist für jeden Verurteilten ein hartes Los. Psychologen und Anwälte sprechen vom "Death-Row-Syndrome" (Todestrakt-Syndrom), das den mentalen Schaden beschreibt, der sich aus Jahren und sogar Jahrzehnten im Todestrakt ergibt.
Fast alle Verurteilten sind dauerhaft in Einzelhaft untergebracht, wo sich der Mangel an Sinneseindrücken so verheerend auswirkt, dass dieser Umstand allein schon an Folter grenzt, wie es einige internationale Gerichte beurteilen.
Das Leben in der Todeszelle ist für nicht wenige Häftlinge solch eine Qual, dass einige alle Chancen aufgeben und ihre Hinrichtung zu beschleunigen versuchen, sich sozusagen als "Freiwilliger" hinrichten lassen.
So fand eine Studie der juristischen Fakultät der Universität Cornell aus dem Jahr 2005 heraus, dass seit Wiederaufnahme der Todesstrafe von den 822 stattgefundenen Exekutionen 106 an Gefangenen vollstreckt wurden, die "freiwillig" sterben wollten.
Auch die Angehörigen von Personen, die wieder und wieder einen Exekutionstermin erhalten, der dann gestoppt wird, machen traumatische Erfahrungen durch. Anders als die Familien der Opfer erhalten sie keinerlei Unterstützung von Staatsanwaltschaft oder Opferhilfsorganisationen.
Richard Dieter nennt sie die "vergessenen Opfer", die oft verächtlich behandelt werden, als sei die Schuld des Täters irgendwie auch auf sie übergegangen. Sie finden sich in der Rolle eines Außenseiters und müssen gleichzeitig damit fertig werden, dass ein Angehöriger gerade getötet werden soll.
Troy Davis hatte insgesamt vier Termine im Laufe der Zeit, bevor er vom Bundesstaat Georgia hingerichtet wurde. Wenn auch jeder Aufschub einen kurzfristigen Erfolg für Davis und seine Unterstützer darstellte, so war die ständige Ungewissheit für seine Familie doch auch eine enorme Belastung.
Kurz nachdem der Oberste Gerichtshof Anfang 2011 Davis' letzten Antrag abgewiesen hatte, starb seine Mutter. Noch am Vortag hatte ein Arzt ihr gute Gesundheit bescheinigt. Davis' Schwester Martina Davis-Correia glaubte, ihre Mutter hätte wohl keinen weiteren Hinrichtungstermin mehr überstanden. "Ich glaube, sie starb an gebrochenem Herzen."
Noch am Hinrichtungstag selbst erfolgte ein allerletzter Aufschub, der dann doch vier Stunden später wieder aufgehoben wurde. Nicht lange nach der Hinrichtung von Troy Davis starb auch seine Schwester Martina, die über Jahre gegen ihre Krebserkrankung angekämpft hatte.
Quellen: The Nation, Initiative gegen die Todesstrafe, Atlanta Journal-Constitution
- Links:
www.thenation.com/article/175737/death-row-torture-warren-hill
www.ajc.com/news/news/local/no-appeal-being-filed-today-to-overturn-hills-stay/nYxKq/
Initiative gegen die Todesstrafe e.V. | www.initiative-gegen-die-todesstrafe.de